Es ist diese neoliberale Gesellschaft, in die wir eng eingehüllt, ummantelt sind. Für die einen ist es eine kuschelige wärmende Hülle, für nicht wenige andere sind es aufgrund mangelnder Bedeckung zugige, ungemütliche Zustände. Das allgemeine Credo lautet: aktiv sein, raffiniert und vigilant. Überhitzung, Aktionismus und Reflexionsabwesenheit sind dem Neoliberalismus inbegriffen. Dieweil sind Tätigkeiten ausschlaggebend geworden wie konkurrieren, sich hinweg-, durchsetzen, erfolgreich sein, gewinnbringend agieren. Sigmund Freud betrachtete schon in seiner Zeit die (Waren-) Produktion immer mehr einer Destruktion gleichkommend. Gleichzeitig sah er im Akkumulations- und Wachstumszwang, in der Selbstoptimierung des Menschen eine unbewusste Angst vor dem Tod am Werk: „Man optimiert sich zu Tode.“ Sensorische Antworten wie Erschöpfung, Leiden und Schmerz werden tatkräftig marginalisiert, denn Schmerz als auch Leiden stehen am ehesten für Passivität und erscheinen mithin sinnlos in einer fortwährend rackernden unruhigen Gesellschaft.
Schmerzempfinden (Nozizeption) ist aber ein bedeutsamer, Überleben sichernder Mechanismus im vitalen Organismus. Die Beseitigung des Schmerzes, was uns medikamentös in Aussicht gestellt wird, beseitigt das zweifelsohne unangenehme, manchmal unausstehliche Gefühl, jedoch wird damit ein bedeutsames Frühwarnsystem als Teil eines zweckmässigen Regelkreises abgeschaltet. Schmerzlinderung, seine Tilgung gilt als Essenz eines erfolgreichen Lebens im Reglement der Gesellschaft. Folgerichtig bescheinigt der Philosoph Byung-Chul Han dem heutigen Menschenbetrieb, eine Palliativgesellschaft zu sein. Palliativ ist mit schmerzlindernd nicht im Wesen bezeichnet, eher handelt es sich um ein „bemänteln“.
[lat.: pallium = Mantel, palliare = mit einem Mantel umhüllen, verbergen, schützen]
In der gegenwärtigen weltweiten Seuchenzeit sieht der Philosoph das Virus in die palliative Wohlfühlzone eindringend und diese in eine Quarantäne verwandelnd, in der das Leben zum Überleben erstarrt. Der Nachbar, der Andere wird zum Objekt, zur Virenquelle verdinglicht, von dem man sich distanzieren muss. Wir bleiben daheim, wir essen, ertüchtigen uns daheim, wir liefern uns dem Digitalen aus, um mit der Welt und mit anderen in Kontakt zu bleiben. Wir unterwerfen uns einem Reglement und Katalog von Verboten, an deren Verfassung wir nicht mitgeschrieben haben. In bangen Momenten erahnen wir, was für ein fragiles Ding eine Demokratie ist. Bei Byung-Chul Han ist Nietzsches berühmter „letzter Mensch“ „nicht notwendig an die liberale Demokratie gekoppelt. Er verträgt sich ohne Weiteres mit einem totalitären Regime“.
Der Soziologe Ulrich Beck legte vor mehr als 30 Jahren sein Werk „Die Risikogesellschaft“ vor. Darin skizzierte er die moderne Gesellschaft anhand spezifischer Merkmale, die uns auch heute noch beschäftigen, mitunter sogar noch verstärkt belasten.
- Risiken der heutigen Gesellschaft sind auf moderne Ursachen zurückzuführen. Sie sind Nebenprodukte des industriellen Fortschritts. Sie werden nicht intentional hervorgebracht, sondern wachsen in dem Maße, in dem auch unsere technische Entwicklung fortschreitet.
- Die heutigen Risiken haben eine neue Qualität angenommen, denn sie sind nicht mehr an den Ort ihrer Entstehung gebunden. Heutige Nebenfolgen des technischen Fortschritts zeichnen sich durch die Globalität ihres Bedrohungspotenzials aus.
- Frühere Gefährdungen (z.B. Armut) waren sinnlich wahrnehmbar, und stellten somit konkret erfahrbare Risiken dar. Die Risiken unserer heutigen Zeit dagegen treten größtenteils in latenten Formen auf, entziehen sich also einer eindeutigen Wahrnehmung und bleiben in ihrem Kern meist unsichtbar.
In der Risikogesellschaft obliegt die Aufgabe der Deutung von Risiken in erster Linie den (Natur)Wissenschaften. Sie bestimmen, welche Stoffe als gefährlich für Mensch und Umwelt einzustufen sind und bis zu welchen Belastungsgrenzen sie als hinnehmbar erscheinen. Dadurch kommt ihnen eine gesellschaftlich-politische Schlüsselposition zu, obwohl die Risikobewertung kein vollends empirisch fundiertes Resultat darstellt, sondern gewisse Divergenzen einräumt. Es kommt unweigerlich zu divergierenden Betrachtungen, konfliktbehafteter Definitionsvielfalt von Risiken, die stark nach dem sozialen bzw. kulturellen Standort und den Interessen der jeweiligen Wissenschaftler bzw. ihrer Auftraggeber variieren. Es liesse sich folglich eine gewisse Instrumentalisierung des Risikos ableiten und fatalerweise lässt sich am Ende auch kein Schuldiger dingfest machen – jedermann als auch niemand ist verantwortlich.
Wie aber stellen wir uns der Tatsache, dass unser Leben risikobehaftet ist? Ein überaus tragisches, beinahe lächerliches Exempel bot der österreichische Dichter Ödön von Horvath. Ein Wahrsager prophezeite ihm ein einschneidendes (tödliches?) Erlebnis, woraufhin Horvath die Benutzung eines Fahrstuhls als auch eines Autos als zu gefährlich abwies, stattdessen trat er den Heimweg zu Fuß an. Ein einsetzendes Gewitter brach an einem Baum einen Ast ab, der ihn fatalerweise traf und erschlug.
Nun lassen sich in einem riskanten Umfeld unterschiedliche Verhaltensweisen beobachten:
Indifferenz oder Ignoranz Gefährdungen gegenüber: „Wo sich alles in Gefährdungen verwandelt, ist irgendwie auch nichts mehr gefährlich“ (Ulrich Beck).
Hypersensibilität Risiken gegenüber: Aufgrund des medizinisch-technischen Fortschritts sind „alte“ Risiken weggefallen, ohne dass die Menschen entspannter reagieren. Der Philosoph Odo Marquard nannte das „das Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom“– die eigentümliche Fähigkeit des modernen Menschen, unter immer weniger immer mehr zu leiden.
Anderenfalls könnte man sich auch auf den Standpunkt stellen, Risiko als Teil unseres Daseins anzunehmen, – nicht in einem fatalistischen, sklavischen Sinne, sondern mit dem Gespür für das Veränderliche, Wandelbare, auch Unzuverlässige, was uns umgibt. Nehmen wir das Risiko als „Challenge“ an, so gewinnen wir reichlich Flexibilität und Zuversicht, – definitiv nicht die schlechtesten Eigenschaften für Kreativität und Da-Sein.
Nicht zufällig fällt mir doch in diesem Zusammenhang dazu die Substanz des Jazz ein: die Improvisation. Davon soll der nächste Text handeln. –> –> –>